Der Vogelflug der Seele

Ein Kapitel aus Vladimir Megre: Anastasia, Band 3

Auch am nächsten Tag schauten Anastasia und ich zu, wie unser kleiner Sohn begeistert die Welt um sich herum entdeckte. Am Rande der Lichtung lag wieder die Wölfin, diesmal spielten ihre Jungen neben ihr. Ich sah, wie der kleine Wladimir von Zeit zu Zeit an seinen Fingern leckte. Ich wusste noch, dass die Erwachsenen das Nuckeln an den Fingern verhindern sollten. Einige Eltern hätten dem Kind einen Nuckel gegeben, andere hätten Windeln um seine Hände gebunden. Ich äußerte Anastasia meine Bedenken.

Ihre Antwort war: „Wladimir, mach dir keine Sorgen. Unser Sohn leckt nur die Pollen ab von seinen Fingern."

„Die Pollen? Welche Pollen?"

„Die Pollen von den Blüten, von den Gräsern, die er mit seiner Hand berührt, oder die Pollen, die Käfer ihm auf ihren Beinchen bringen. Er hat gerade sein Gesicht verzogen. Das heißt, ihm haben Pollen einer Pflanze nicht gut geschmeckt.

Sieh an, Wladimir, wie er jetzt mit seinem Mund nach einer Blüte sucht, wie er sie mit dem Mund vorsichtig nimmt. Lass ihn, Wladimir, den Geschmack des Weltalls erkennen."

„Ich gebe zu, es klingt poetisch, doch wieso verbindest du die Blüte mit dem Kosmos?"

„Verbunden ist im Kosmos alles Leben."

„Wie sieht man und wie misst man die Verbindung, welche Geräte zeigen sie mir an?"

„Hier hilft dir kein Gerät, Wladimir, nur die Seele. Mit ihr verstehst du mich und siehst die Antwort. Hier auf der Erde ist die kleine Blume, dort in dem Kosmos ist die große Sonne. Vom ersten Strahl des kosmischen Planeten berührt, geht diese Blume auf. Die beiden Wesen sind verschieden, in Verbindung entsteht die Freude, ist das Leben möglich."

Anastasia hörte auf zu sprechen und blickte in den Himmel. In der Höhe schwebte ein Adler. Dieser große Vogel zog seine Kreise immer enger, immer tiefer, bis er ganz nah am Kind das Gras berührte. Der Adler landete und lief über die Lichtung. In seiner stolzen Haltung stand der Adler jetzt auf der Erde.

Die Wölfin mit gesträubtem Fell verharrte in Angriffshaltung. Bloß der Junge saß nichts ahnend auf dem Po und streckte seine Arme zum Raubvogel hin. Was wird geschehen?

Der Adler kam nah an das Kind heran. Die Krallen berührten fast den kleinen Körper und der Schnabel hing wie ein Haken dicht über dem Kopf. Die kleine Menschenhand betastete neugierig die großen Flügel und die starken Fänge. Der Adler streifte leicht mit seinem Schnabel den Kopf des Kindes wie auf der Suche. Dann lief er weiter, spreizte seine Flügel und stieg empor und kreiste hoch am Himmel.

Der Junge lallte aufgeregt sein „e-eh" zum Adler.

Der Adler stürzte runter, griff den Jungen und schloss die Krallen fest um seine Achseln, ohne den kleinen Körper zu verletzen. Des Adlers Schwingen kämpften um die Höhe, des Kindes Augen glänzten vor Erregung. So flog der Vogel mit dem kleinen Jungen ganz tief über dem Boden, und die Beine des Jungen streiften noch das Gras der Lichtung. Ein Stoß der Schwingen und ein Stoß der Beine erfolgten auf einmal, und dem Vogel gelang es, von der Erde abzuheben. Jetzt ging es in die Höhe, Kreis um Kreis. Sie waren schon über den Zedernwipfeln, entschwanden in dem hellen Blau des Himmels.

Ich löste mich aus meiner Erstarrung und zog aufgeregt Anastasia an der Hand. Sie reagierte nicht, sie blickte in den Himmel und flüsterte vor sich hin: „Du bist zwar alt,doch stark sind deine Schwingen. So fliege! Fliege höher! Fliege höher!"

„Was ist hier für ein Experiment? Was für eine Strafe? Wozu setzt du das Kind solchen Gefahren aus?", schrie ich entsetzt.

„Wladimir, habe keine Angst", beruhigte mich Anastasia, „sein Flug mit diesem Vogel ist weniger gefährlich als die Flüge, die du im Flugzeug häufig unternimmst."

„Und wenn der Adler ihn loslässt?"

„Nie macht er das. Ich bitte dich, Wladimir, erzeuge in Gedanken keine Panik. Der Flug des Adlers, der über der Erde den kleinen Menschen trägt, ist für den Menschen wichtig. Denn dieser Flug gleicht einem Schritt in der Erkenntnis."

„Was ist hier wichtig? Falscher Ehrgeiz! Hier stimme ich völlig zu, dass die Natur den Menschen in seine Schranken weist und nicht zufällig. Der Mensch soll kein sinnloses Risiko eingehen. Das wäre ein Verbrechen an der Schöpfung."

„Als ich so klein war wie Wladimir und noch wenig verstehen konnte, stieg auch ich mit diesem Adler hier in die Höhe, sah, wie klein die Lichtung, wie groß die Erde ist, und dieses ungewohnte, ganz helle Bild steht klar vor meinen Augen, so klar wie an dem Tag des Fluges.

Als ich drei Jahre alt war, fragte mich mein Urgroßvater: ,Anastasia, antworte mir bitte: gefällt es jedem Tier wenn du es streichelst?'

,Ja, jedem', sagte ich. ,Sie alle wedeln dabei mit ihren Schwänzchen. Auch die, die keine Schwänzchen haben, freuen sich, wenn ich sie streichle. Alle, alle, alle - Grashalme, Blumen, Bäume - freuen sich.'

,Erfreut sich hier alles deiner zärtlichen Umarmung?'

,Ja, alles, was hier lebt und wächst, die Kleinen und die Großen.'

,Sogar die große Erde? Weißt du auch, wie groß die Erde ist?'

,Die Erde ist ganz groß, ich konnte gar kein Ende sehen', sagte ich und dachte an den Blick aus dem Himmel.

,Wenn die Umarmung alle freut, so wird sie die Erde freuen. Sie ist aber groß! Wie kann ich sie umarmen, Urgroßvater? Sind deine Arme dafür lang genug?'

,Anastasia, meine Arme sind nicht lang genug.' Er spreizte seine Arme zu den Seiten und sprach nachdenklich:

,Meinst du wirklich, die Erde sehnt sich nach Umarmung?'

,Ja, ich denke, die Erde wartet auf den Menschen, der es kann.'"

So werde dieser Mensch und überleg dir, wie du die Erde, auf der du lebst, umarmen kannst.'

„Ich dachte über diese Aufgabe sehr lange nach und hattekeine Lösung. Bevor ich eine Lösung finde, wusste ich, wird mich mein Urgroßvater nicht ansprechen. So rätselte ich über einen Monat vergeblich...

Und einmal sah ich eine Wölfin aus der Ferne. Sie sah mich nicht, doch meinen Blick vernahm sie und wedelte mit ihrem Schwanz vor Freude. Und bald verstand ich: Es genießen alle, ob groß, ob klein, wenn ich sie nur anschaue oder wenn ich an sie mit Liebe denke. Noch wichtiger war die Erkenntnis: neben dieser Anastasia, mit den Händen, mit den Füßen, lebt eine andere, und sie ist größer als die erste, und sie ist unsichtbar. Und ich bin beide zugleich. Wie jeder Mensch wahrscheinlich.

Ich sagte zu dem Urgroßvater fröhlich: ,Lieber Uropa, sieh dir an, ich kann die Tiere mit meinen Blicken streicheln und umarmen. Eine unsichtbare Anastasia umarmt die Tiere und sie freuen sich darüber. Ich denke, die unsichtbare Anastasia kann auch die Erde streicheln und umarmen. Ich weiß bloß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich werde für den unsichtbaren Menschen nach einem Namen suchen. Wenn ich einen finde, so antworte ich dir auf deine Frage, und du wirst wieder öfter mit mir sprechen.'

,Der unsichtbare Mensch in einem Menschen heißt Seele', kam mir zugleich die Antwort. ,Bewahre deine Seele gut und wirke durch sie dein ganzes Leben, meine Liebe.'

„In welchem Alter konntest du, Wladimir, die unsichtbare Seele wahrnehmen?" Mit dieser Frage schloss Anastasia ihre Erzählung ab.

„Ich weiß es nicht genau", war meine Antwort. Doch mit dieser Antwort bin ich der Frage nur ausgewichen. Ob ich die Seele im Körper je erkannt? Was ist die Seele? Ich weiß es nicht genau. Bin ich nicht einer von den vielen, die die Seele so oft erwähnen, ohne sie zu kennen? Kann man die Seele fühlen und begreifen? Sind solche Fragen überhaupt wichtig?

Der dunkle Punkt am Himmel wurde größer. Der Adler stieg herab in großen Kreisen. Der Junge blickte aufgeregt nach unten, und seine Hände zuckten mit den Fingern im Takt der Flügelschläge. Als die Beine des Kleinen nun die Erde streiften, ließ ihn der Adler los. Der Junge fiel ins Gras und kullerte herum und stand bald wieder auf allen Vieren.

Er suchte mit den Augen den Adler. Zehn Meter weiter lag der Adler auf der Seite und atmete ganz schwer, den Kopf zur Erde gebeugt, die Flügel kraftlos ausgestreckt. Als ihn der Junge sah und fröhlich lachte, versuchte sich der Vogel aufzurichten, doch dafür hatte er noch keine Kraft. Die Wölfin fletschte plötzlich ihre Zähne, und in zwei großen Sätzen stand sie zwischen den beiden.

Anastasia flüsterte unruhig: „Erhaben, streng sind die Gesetze Deiner Schöpfung, und alles dient von Anbeginn dem Menschen. Doch schade, schade ist es um den Adler!"

„Kannst du mir jetzt erklären, was vor uns geschieht", sprach ich Anastasia an, „warum die Wölfin so böse ist?"

„Sie hält den Adler für ein krankes Tier, sie lässt ihn nicht zum Kind, sie ist bereit, den Adler anzugreifen. Wladimir wird den Kampf noch nicht verstehen, und schade, wenn er ihn erleben wird. Wie kann ich das verhindern?"

Der Vogel richtete sich plötzlich auf. Stolz und sicher erblickte er die Lichtung, klappte laut mit seinem Schnabel und lief los zum Kind. Die Wölfin räumte ihm den Weg, dabei behielt sie die Angriffshaltung. Des Adlers Schnabel und des Adlers Federn betastete Wladimir voller Freude. Dabei sprach er ununterbrochen zu dem Vogel, als hätte er um etwas sehr gebeten. Den Kopf des Kindes und die Narben an den Schultern, die seine Krallen hinterlassen hatten, berührte sanft der Adler mit dem Schnabel. Er zupfte mit dem Schnabel eine Blüte aus dem Gras und legte sie dem Jungen in seinen offenen Mund. Hier strauchelte plötzlich der Vogel, und die Wölfin setzte sofort zum Sprung an. Doch der Vogel siegte: ein kurzer Anlauf und ein Flug zum Himmel.

Der Adler stieg empor, und aus der Höhe fiel er zu Boden, glitt dahin über der Lichtung. Dann schlugen seine Schwingen wieder aus und trugen ihn in die verlassene Höhe. So wiederholte sich vor unseren Augen das Kunststück des erfahrenen Fliegers. Beim letzten Sturz erfassten seine Krallen das Gras, und aus dem Himmel fielen die grünen Streifen auf den kleinen Jungen. Wladimir zappelte und streckte seine Arme dem großen Freund entgegen. Auch Anastasias Blick galt dem Adler wie auch ihr Flüstern: „Wozu? Du warst so gut! Ja, ja, ich weiß es, du bist gesund und voller Kraft, und nur dein Alter verlangt nach Ruhe. Ruhe dich doch aus. Von deinen vielen Flügen."

Ein schwarzer Punkt durchkreuzte rasch den Himmel. Der Adler flog zur Seite, und bald sah ich ihn in der Ferne stürzen, seine schlaffen Flügel gaben ihm keinen Halt mehr, und mit ihnen spielte der Wind. Der Adler fiel, Anastasia rief ihm zu: „Ja, ich danke dir, mein alter Lehrer! Du hast dem Menschen deine Kraft gegeben. Du hast die Höhe uns gelehrt und bist im Himmel geblieben."

Der tote Adler fiel. Am Himmel kreisten zwei junge Adler. Und sie kamen tiefer und kreisten über uns. Wladimir grüßte sie laut und er winkte ihnen zu. Ich konnte das Geschehene nicht fassen und fragte aufgeregt Anastasia: „Wofür ist dieses Opfer? Sag doch bitte: Die Tiere opfern hier ihr Leben für den Menschen. Sieht denn ein Tier in diesem Opfer einen Sinn?"

„Ja, für das Licht der Liebe, für den Segen über die Tiere selbst und ihre Kinder, ja, dafür opfern sich die Tiere uns, den Menschen. Schau nur, Wladimir, wie dein Sohn die beiden Adler allein mit seinem Lächeln hergerufen. Von nun an lebt in seinem Licht der Liebe ein Teil von ihrem Vater, und womöglich verstand der alte weise Vogel das."

„Gilt solch ein Opfer also allen Menschen?"

„Ja, allen, die das Licht der Liebe spenden."