BEGEGNUNG MIT EINEM SEELENBRUDER
Im Februar 2017 bin ich unterwegs im Norden von Laos; Oudomxay heißt der kleine Ort nahe der Grenze zu China.
Ich komme gegen Mittag mit dem Bus aus Luang Namtha am Busbahnhof in Oudomxay an, zusammen mit zwei französischen Schwestern, die ich unterwegs kennengelernt habe. Sie wollen in zwei Stunden weiterreisen und mir in der Zeit bis dahin ein nettes Guesthouse zeigen, in dem sie schon einmal gewohnt haben. Sie deponieren ihr Gepäck solange im Busbahnhof – und ich auch (!), damit wir alle drei beweglich sind.
Also zuerst zu dem netten Hostel; ich checke schnell ein, und wir bummeln noch ein bisschen durch den kleinen Ort. Dann zurück zum Busbahnhof, sie beide um weiterzufahren, ich um mein Gepäck abzuholen. Inzwischen ist es fast 14 Uhr, wir verabschieden uns, ich hol meinen Koffer, verlasse den Busbahnhof, halte ein TukTuk an, verhandele gerade den Preis mit dem Fahrer. Da steht er auf einmal vor mir, wie aus dem Nirgendwo kommend (später klärt sich auf: Er ist gerade vor fünf Minuten mit einem Bus aus China angekommen) und fragt: „May I come with you?“
Ich guck ihn erstaunt an, versteh nicht, was er will – so eine ungewöhnliche Frage! – und sehe in die Augen eines bildschönen jungen Mannes aus Pakistan; und im selben Moment passiert etwas mir Unbekanntes, sehr körperlich: Eine Energie, ein Schauer, etwas Un-Ignorierbares fährt von oben nach unten durch meinen Körper. Gleichzeitig fasziniert mich dieses schöne Gesicht; ich könnte ihm endlos in die Augen schauen.
Da ist nicht das oft beschriebene Gefühl von spontaner Liebe, auch keine Tränen, sondern das Gefühl, der Gedanke, ein Wissen: Hier ist gerade etwas Bedeutsames passiert, was ich nicht kenne, nicht verstehe und auch irgendwie gar nicht haben möchte. Zu verwunderlich diese so unvermittelt direkten Fragen: „Where do you go next?“, und ohne die Antwort abzuwarten, „May I join you?“ Und dies von jetzt auf gleich von einem jungen Mann aus Pakistan an eine ältere Frau aus Europa (Er war damals 24 und ich 68 Jahre alt). Ich erwidere in unvollkommenem Englisch so etwas wie: „wieso mit mir?“, woraufhin er sagt: „I saw you“. Ich versuche es mit: „Mit mir zu reisen ist sicher nicht lustig für dich; guck mal, der Altersunterschied. Ich kann nicht lange wandern, ich brauch viel Ruhezeiten; such dir doch lieber junge Leute, die hier auf der Route sind.“ Er lässt nicht locker: „I want to go with you; I carry your luggage“. Ich versteh immer weniger, was hier passiert, bin abweisend, aber biete ihm an, er könne gerne in meinem TukTuk mitfahren in den Ort hinein. Er lehnt höflich und entschieden ab; darum ginge es nicht, sondern: „Want to travel with you“.
Ich kann mir nicht erklären, was er von mir alten Frau oder mit mir wollen kann, dieser dynamisch wirkende junge Mann, bleibe leicht kopfschüttelnd ablehnend und fahre allein in mein Guesthouse. Im TukTuk fühle ich mich überflutet von irritierenden Gefühlen (er war mir soo sympathisch) und Gedanken wie: Aus der Nummer komm ich innerlich nicht wieder raus, und etwas ärgerlich: Ich wollte eine Reise im Außen durch das schöne Laos machen; aber nun wird es ein Psycho; meine Ruhe ist dahin.
Ich richte mich im Guesthouse ein und will mich vor der morgendlichen Weiterfahrt nach Muang Khoua – von wo aus es keine Straßen mehr gibt, sondern nur noch die Bootsfahrt auf dem Nam Ou – ein bisschen in Oudomxai umsehen und geh als erstes zum großen goldenen Buddha. Und wer sitzt da schon? Der schöne Pakistani. Er sieht mich sofort kommem; abhauen geht nicht mehr. Da sitzt er mit drei laotischen Jungs im Kreis auf der Wiese vor dem Buddha und lädt mich lächelnd ein, mich dazuzusetzen (und wieder: Aus der Nummer komm ich nicht mehr raus!).
Wir tauschen Namen aus; er heißt Arbi. Irgendwas an ihm mag ich sehr gerne; freu mich daran, wie freundlich und offen er mit den Jungs umgeht, bringt ihnen ein paar Brocken Englisch bei, spricht so sanft und einfühlsam mit ihnen – und mit mir. Da ist etwas sehr Anziehendes an ihm, doch mein Fluchtinstinkt lässt mich denken: Nach dieser Plauderei ist dann ja alles vorbei; morgen früh fahr ich ja eh weiter. Wir beenden die Plauderrunde, da bietet er charmant und höflich an: „I accompany you to your hotel“.
Ich mag ihn nicht schon wieder abweisen, lasse es zu und – natürlich kein Zufall – er hat in demselben Guesthouse eingecheckt! Er konnte nicht wissen, dass ich dort wohne! Nun gibt es kein Entkommen mehr; er bittet mich, dass wir den Abend zusammen verbringen, hier im Foyer des Guesthouses. Also gut, mein Widerstand weicht auf. Nach einer Pause von fast zwei Stunden, die ich brauchte, um mich zu sortieren, sitzen wir also bei Neonlicht auf Plastikstühlen in dem kleinen Vorraum des Hostels, nichts weiter zu trinken als Wasser und reden zwei Stunden miteinander, d.h. vor allem Arbi redet. Er erzählt mir seine Lebensgeschichte: Er kommt aus dem Norden Pakistans, hat die Mutter verloren, als er vier Jahre alt war, den Vater im Alter von 14 Jahren. Der älteste Bruder übernimmt die Vormundschaft; so wächst er auf in seiner wohlhabenden, muslimischen Familie, mit vielen Geschwistern und viel Trauer um die zu früh verlorenen Eltern. An der Universität von Islamabad hat er den Bachelor gemacht und studiert jetzt an einer Elite-Uni in Guangzhou, China. Sein girl-friend in China hat gerade vor drei Wochen eine Abtreibung machen lassen – gegen seinen Willen – , und er weint um die verlorenen Zwillinge. Das alles rührt mich sehr an. Und doch denke ich weiterhin, dass ich als Reisegefährtin eine Enttäuschung für ihn wäre und erwähne immer mal wieder meine gesundheitlichen Einschränkungen und dass ich auch viel Ruhe und Zeit für mich alleine bräuchte. Dennoch will er morgen früh – meinem Reiseplan folgend – mit mir zusammen den Bus nach Muang Khoua nehmen, um von dort, wo es keine Straßen mehr geben wird, in einem kleinen Holzboot für vier Stunden auf dem Fluss Nam Ou nach Muang Ngoi zu fahren. Er hat Angst vorm Wasser, kann nicht schwimmen, ist noch nie per Boot oder Schiff gereist. Ich preise ihm die Möglichkeit an, von hier aus noch via Sraße nach Luang Prabang (unser beider Ziel) fahren zu können. Er beharrt auf seinem: „I want to go with you; so I travel the first time in my life by boat“.
Also gut, wir werden morgen gemeinsam weiterfahren.
Am nächsten Morgen sehe ich Arbi das Hotel allein verlassen – Richtung Busbahnhof. Oh, offensichtlich Missverständnis gestern Abend. Er scheint gekränkt zu sein. Besser konnte ich es in meinem mäßigen Englisch nicht rüberbringen, dass ich nicht ständig alles zusammen machen möchte, aber gerne manchmal. Als ich etwas später den Bus nach Muang Khoua besteige, sitzt er bereits drin, ganz vorne, seinen großen Rucksack auf dem Sitz neben sich. Averbale Botschaft, wie ich sie verstehe: „Ich schmolle etwas, aber reise doch mit dir zusammen“. Ich setze mich genau hinter ihn in die zweite Reihe. So fahren wir dann im selben Bus, aber hintereinander, reden nicht miteinander, es fühlt sich etwas beklemmend an.
Am Zielort angekommen lässt er es sich nicht nehmen, mein Gepäck zu tragen und für mich ein Hostel zu suchen. Dort liefert er mich quasi ab, sucht sich selbst ein anderes Quartier und verabschiedet sich mit einem freundlichen: „See you tomorrow at the boat“. Schade, so hatte ich es ja gar nicht gemeint. Ich sehe ihn den ganzen Tag nicht mehr, und er fehlt mir! Ich lass dieses Gefühlschaos zu, verstehe es aber überhaupt nicht. Was ist los mit mir? Er fehlt mir sogar sehr, und ich suche ihn überall – vergeblich. Ich muss ihn wiederfinden; klapper alle Restaurants und Guesthouses des Ortes ab und suche seinen Namen in den Listen, die in Laos immer sichtbar an der Rezeption liegen. Nirgends sein Name; Traurigkeit überkommt mich. Hab ich ihn etwa verloren? Abends, es ist bereits dunkel, laufe ich wie fremdgesteuert durch den ganzen Ort und rufe laut seinen Namen. Ich finde ihn nicht. Irritiert über mein eigenes Verhalten und die heftigen unerklärlichen Gefühle lege ich mich zum Schlafen und bin die Nacht über wachend sowie träumend damit beschäftigt, was mir widerfahren ist und wie ich ihn wiederfinden kann.
Am nächsten Morgen treffe ich Arbi wieder; er steht schon früh am Bootsanleger und erwartet mich. Ich freue mich riesig und kann ihm endlich erklären, dass ich ihn wahrlich nicht kränken wollte, auch nicht loswerden; dass ich seine Reaktion aber verstehen kann und vor allem, dass ich ihn sehr mag! Er freut sich sichtlich, Tränchen kullern bei beiden, wir fallen uns in die Arme – alles wieder gut! Ich bin so glücklich, ihn endlich in meiner Nähe und uns vereint zu wissen, und alle Vorbehalte (oder Ängste?) sind verschwunden.
Wir klettern glücklich zusammen in das kleine Holzboot nach Muang Ngoi. Vier Stunden auf dem Nam Ou, einem Nebenfluss des Mekong, durch wilde grüne Landschaft bei Sonne und kaltem Fahrtwind. Er ist zugewandt und sanft und sagt:
„You are like a mother to me“.
In Muang Ngoi angekommen erhält er schlechte Nachrichten: Die Freundin in China sei im Krankenhaus, habe sehr viel Blut verloren – wohl in Folge eines Fehlers bei der Abtreibung; sie sei in ziemlich schlechtem Zustand, Intensivstation. Für Arbi ist klar: Er will sie nicht allein lassen; er muss sofort zurück nach China. Das ist kompliziert von hier aus, wo es keine Straßen mehr gibt, nur noch Wasserwege.
Er muss viel telefonieren, um über ihren Zustand auf dem Laufenden zu sein und um die lange Rückfahrt zu organisieren. Ich sehe ihn in einem kleinen Straßencafe sitzen, verzweifelt, weinend, er hat Angst um sie. Ich bin unsicher, ob ich störe, trete vorsichtig näher, und er sagt hinterher: „Oh my God, I felt so alone here and right then you came along, like a mother.“
Das nächste Boot zurück geht erst morgen. Ich stehe früh auf, um noch etwas Zeit mit ihm zu haben. Wie gerne würde ich ihn hier behalten! Wir tüfteln noch ein wenig mit Hilfe meines Reiseführers an seiner Route und den Umsteigmöglichkeiten.
Dann müssen wir schon los zum Bootsanleger; sein Böotchen fährt gleich ab. Wir stehen oben auf der langen Treppe, die hinunter zum Fluss führt, zwischen den anderen Rucksack-Touris, die auch auf's Boot wollen und uns, das ungleiche Paar, etwas erstaunt mustern. Wir stehen da umarmt bis zur letzten Minute, sind voller unerklärlicher Liebe und Abschieds-Wehmut, halten uns mit beiden Händen übereinander fest.
„I will miss you“, sagt er und küsst einen Handrücken von mir, um ihn dann an seine Stirn zu halten, „that means blessings from you in my religion“.
Küsschen hin und her, bis Arbi sagt: „Now you must go; I don't want to cry“. Und schon sind seine Augen feucht. Er geht die Treppe hinunter zum Boot, steigt als letzter ein. Das Boot legt ab, und ich stehe noch lange weinend oben auf der Treppe, sehe Arbi winken, bis das Boot um die Flussbiegung verschwunden ist. Meine Tränen fließen noch lange – aus Glück, aus Traurigkeit und aus Dankbarkeit. Welch ein großes Geschenk von unserer Seelenfamilie!
Nachklang:
Als ich in mein Guesthouse zurückkehre, liegt dort ein Zettelchen für mich, das Arbi ganz früh morgens, als ich noch schlief, beim Owner des GH für mich abgegeben hat.
Darauf stehen u.a. seine Daten – damit wir in Kontakt bleiben können.
In den nächsten Tagen und Wochen schreiben wir uns fast täglich, und die Hauptbotschaft von beiden Seiten ist: „I miss you too much!“
Im ersten halben Jahr nach der Trennung tut der Verlust richtig weh. Ich vermisse Arbi unendlich, habe nachts das Handy neben meinem Kopfkissen liegen, damit ich (des Zeitunterschieds wegen) sofort höre, wenn eine Nachricht von ihm eintrifft. Gleichzeitig bin ich überglücklich über diese Begegnung und fühle mich auf besondere Weise davon gestärkt und getragen.
Wie er unseren Seelenkontakt im Nachherein sieht, kann ich aus diesen Zeilen von ihm lesen: „When people ask me about my travel story to Laos, I start it with you:
A kind lady (like mother) met me. And how sudden was our first meeting, and it left a lot of questions in your mind -:) You were surprised why this boy is so open to me and why only me. Actually it was attraction of old souls towards each other.“
Allmählich werden unsere Nachrichten etwas tröstlicher, so z.B. von ihm:
„Goodbyes are only for those who love with their eyes. Because for those who love with heart and soul, there is no such thing as separation.“
Ein geplantes Wiedersehen in Malaysia hat Covid verhindert.
Aber wir sind bis heute in liebevollem Kontakt.