Krieg und Frieden - Die Schlafwandler
Schuldmoral oder seelisches Wollen
Seele ist das Entwicklungsprinzip selbst in reinster Form. Es gibt im gesamten Bereich der körperlichen und entkörperten Existenz nichts, was die Dynamik von Entwicklung reiner darstellt als die Seele. Dynamik, unaufhaltsames Fortschreiten ist ihr wahres Erkennungsmerkmal. Nichts kann sie aufhalten. Sie kennt diese Möglichkeit nicht.
Welten der Seele, S. 27
Die Evolution ist die grundsätzliche Bedingung, der zukünftig alle Theorien, alle Hypothesen, alle Systeme entsprechen und gerecht werden müssen, falls sie überhaupt denkbar und richtig sein wollen. Die Evolution ist ein Licht, das alle Tatsachen erleuchtet. Eine Kurve, der alle Linien folgen müssen. Das ist die Evolution.
Teilhard de Chardin (1881-1955), Der Mensch im Kosmos, 1939. Französischer Jesuit, Anthropologe und Philosoph.
Diese Sätze einmal im Hinterkopf, möchte ich mich weiter dem Thema Krieg zuwenden, vor allem als einem Beispiel dem Ersten Weltkrieg. Das Problem der Deutschen mit dem Ersten Weltkrieg ist ja, dass ihnen von den Siegern die Alleinschuld an diesem Krieg und seinen entsetzlichen Konsequenzen zugeschrieben wurde und als Verlierer hatten sie keine große Wahl und mussten den Versailler Vertrag erst einmal akzeptieren. Die Konsequenz war allerdings ein Gefühl von tiefer Ungerechtigkeit, Wut, Hass und Rache als Konsequenz. Und das war eine wichtige Voraussetzung für den darauffolgenden Krieg, den Zweiten Weltkrieg, der nun unzweifelhaft von Deutschland ausging. Allerdings von diesem Hintergrund her.
Nun ist Krieg ja immer etwas, was ganz schnell Angst macht, verständlicherweise. Und diese Angst beeinflusst dann alle Kommunikation und alles Denken. Ja, die Angst ist begründet und real. Und trotzdem ist sie ein Hindernis beim tieferen Verstehen. Und dieses tiefere Verstehen ist ein seelisches Verstehen. Denn diese beiden Kriege sind alles andere als sinnlos. Wenn es also bei der Betrachtung dieses Krieges für viele lange Zeit erst mal nur um die Schuldfrage ging, dann ist deutlich, dass dieses Ereignis unter einem moralischen Aspekt gesehen wurde. Moralisch heißt: Was ist nach bestimmten Maßstäben gut oder böse? An dieser moralischen Betrachtung des Krieges ist etwas modern, dass der Krieg nämlich überhaupt unter moralischen Gesichtspunkten gesehen wurde. Das Elend der Bevölkerung im Krieg wurde vom herrschenden Adel bis etwa 1800 als selbstverständlich wahrgenommen. Da ging es nur darum, wer siegte und wer verlor. Dann kam die Französische Revolution mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Also kann man sagen, die moralische Betrachtung, also die Betrachtung von etwas Grauenhaften unter dem Maßstab von Gut und Böse, ist in gewisser Weise ein Fortschritt. Nun, was haben die Schlafwandler damit zu tun?
Schlafwandler ist der Titel eines sehr bekannt gewordenen Buches eines bedeutenden Historikers: Christopher Clark, ein Australier und Professor in Cambridge, der auch dem Deutschen Fernsehpublikum durch seine Reihe von Sendungen über das Weltkulturerbe bekannt wurde.
Er hat dieses Buch über den Vorlauf und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschrieben. Er ist jemand der sehr tief in die Hintergründe und die Motive vieler einzelner Personen und Situationen eingestiegen ist und auch neue Dokumente beachtet hat. Das Buch ist ein Wälzer und eine wirklich zutiefst wissenschaftliche Arbeit. Nur, das erstaunliche Ergebnis für ihn ist, dass es so etwas wie eine eindeutige Kriegsschuld nicht gibt. Keiner der beteiligten Mächte und Personen hatte bewusst vor, einen Krieg zu entfachen. Das heißt, unter diesem Gesichtspunkt wird die Schuldfrage hochproblematisch, wenn nicht sogar irrelevant.
Was aber dann? Wie soll man denn dieses grauenvolle Ereignis sonst verstehen und begründen können, um es zu verarbeiten? Nun ist der Titel, Schlafwandler, finde ich, eine sehr interessante Bezeichnung. Denn ein Schlafwandler ist eine Person, die sich ihres Verstandes und ihrer Vernunft gar nicht mehr bedienen kann. Das heißt, sie kann überhaupt keine bewusste Entscheidung mehr treffen und deswegen auch gar keine Verantwortung für irgendetwas haben, was sie tut. Vielmehr wird sie von einer inneren unbewussten Instanz gesteuert. Dieses Bild des Schlafwandlerischen für die beteiligten Personen und Nationen ist aus meiner Sicht ein hervorragendes Symbol für die seelische Realität. Denn genauso geschieht seelisches Wollen. Es ist nicht vom menschlichen Verstand und vom menschlichen Willen abhängig, sondern die seelische Dimension treibt die Beteiligten in diese Handlung hinein. Deswegen finde ich dieses Buch so bemerkenswert. Denn mein Interesse ist auch darauf gerichtet zu untersuchen, wie moderne wissenschaftliche Forschung und die Aussagen der Quelle sich unter Umständen berühren und gegenseitig stützen können. Und dies, scheint mir, ist ein besonders interessantes Beispiel.
Nun ist dahinter ja aber immer noch die Frage der Sinnhaftigkeit. Ich habe hier in den vorherigen Beiträgen schon einiges dazu gesagt. Aber der zentrale Punkt dieser neuen Lehre ist genau das, was Teilhard de Chardin in diesem kleinen Artikel so überaus deutlich anspricht und was zu seiner Zeit noch nicht wirklich verstanden wurde. Vor allem nicht von seiner Kirche, die zwar seine geistige Kapazität anerkannte, aber seine Aussagen höchst problematisch fand. Sie haben ihn dann, weil sie ihn nicht verurteilen wollten, nach China geschickt und er hat als interessierter Anthropologe tatsächlich eine neue Vorform des Menschen gefunden, den sogenannten Peking-Menschen.
Nun ist vielleicht nachvollziehbar, dass jemand, der sich mit der Entwicklung des Menschen über lange Zeiträume hin beschäftigt, automatisch auf das Phänomen Evolution stößt, ein Thema, das die Moderne seit dem 19. Jahrhundert intensiv beschäftigt hat. Ich nenne nur Goethe, Darwin, Lamarck, Mendel, Hegel, Wallace und daneben gibt es viele andere. Das ist ein Gedanke, der vom herkömmlichen Christentum deswegen schon abgelehnt werden musste, weil die Vorstellung dort war, dass Gott die Welt einmal geschaffen hat und sie seitdem so geblieben ist.
Es geht jetzt aber nicht darum, diese Sehweise zu kritisieren, sondern tiefer zu verstehen, dass für die monotheistisch orientierte Junge Seele die Vorstellung, dass sich alles noch entwickeln könnte und Gott gar nicht die Kontrolle darüber hat sehr erschreckend ist. Und das ist der Grund, warum Darwin zum Beispiel in bestimmten, sehr konservativen Teilen der USA, der Türkei und Indien bis heute abgelehnt wird und in Schulbüchern nicht vorkommen darf. Das ist eine tiefere Begründung, die ich menschlich ohne Weiteres nachvollziehen kann.
Und der Monotheismus ist im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten nicht mehr in der Lage, uns das alles als angebliche Wahrheit aufzudrängen. Denn der Monotheismus ist eine kriegerische Energie, die missioniert und sich am wohlsten fühlt, wenn alle das Gleiche glauben. Das kann man heute noch in den islamischen Ländern erleben. Und ein solches Erlebnis hatte ich einmal als ich mit Varda in Kairo war, zur Zeit des Ramadan, zur Zeit des Mittagsgebetes, saßen wir still in einer Ecke. Alle Menschen waren in der Moschee. Und zu Beginn dieses Gebetes, als über zehn Millionen Menschen gleichzeitig auf den Knien lagen und sich ihre Energie öffnete zur Transzendenz hin, entstand eine unglaublich intensive Energieschwingung über der ganzen Stadt. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, was Monotheismus in seiner urtümlichen und in einer allgemein akzeptierten Form wirklich bedeutet: Ein überwältigendes Gemeinschaftserlebnis, eine große Bejahung des Kontaktes zur Transzendenz und eine große Sicherheit, sich darin geborgen zu fühlen. So war das viele Jahrhunderte auch in Europa.
Ich kann diese Sehweise einer Jungen Seele nicht übelnehmen. Ich teile sie aber nicht. Ich erinnere mich daran, dass ich sie in früheren Leben selber vertreten habe. Aber, wie die Kindheit, muss man doch das Frühere nicht ablehnen, nur weil es für einen selbst vorbei ist. Und man kann vor allem auch sehen, dass es Hunderte von Millionen Menschen gibt, für die diese Sehweise auch und gerade heute stimmig, hilfreich und liebesfördernd ist.
Nun aber die Frage der Sinnhaftigkeit, die ja noch offen ist. Aus unserer Sicht, von der Quelle her bestimmten Sicht, ist die Sinnhaftigkeit des Lebens nur über das Seelische zu begreifen. Und die Seele ist reine Entwicklungsenergie. Die Seele interessiert nichts anderes als die Weiterentwicklung, wozu sie allerdings unseren Körper braucht. Und ich denke allein schon deshalb, ist die seelische Dimension an uns und unserem Überleben hoch interessiert, denn die seelische Entwicklung geht nicht weiter, wenn wir durch furchtbare Umweltumstände aussterben sollten. Ich denke, sie werden alles tun, dass das nicht passiert, aber es wird große Umstellungen geben.
Aber zurück zur Sinnhaftigkeit. Wenn also die Sinnhaftigkeit unserer Existenz in der Entwicklung der Seele, einzeln oder kollektiv, liegt, dann kann man sich einmal die Frage stellen, inwiefern denn in Deutschland, von der geistigen, politischen und sozialen Einstellung her sich etwas entwickelt hat, von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und ich denke, die Veränderungen, die eingetreten sind, sind doch sehr offensichtlich. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten wir in Deutschland einen Erzfeind, das waren die Franzosen. Und die Soldaten zogen 1914 jubilierend in den Krieg, voller naiv-selbstverständlicher Hoffnung auf einen Sieg. Es ging der Spruch um: "An Weihnachten sind wir aus Paris zurück."
Das Ganze hat sich dann grauenvoll anders entwickelt. Und diese Entwicklung war offensichtlich nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht abgeschlossen, sondern ich finde, wie manche Historiker auch, dass der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen gesehen werden müssen, um die Evolution, die Entwicklung dahinter, besser zu verstehen. Dies wäre also, wie manche gesagt haben, ein neuer Dreißigjähriger Krieg von 1914 bis 1945.
Was ist passiert? Wir haben keinen Erzfeind Frankreich mehr. Stattdessen ist nach dem Zweiten Weltkrieg eine absolute Verurteilung von kriegerischem Vorgehen allgemein geworden, mit wenigen Ausnahmen. Was vorher normal war am Anfang des Jahrhunderts, ist in der Mitte des Jahrhunderts absolut verurteilenswert. Das ist wirklich neu.
Und die Idee, die in früheren Jahrhunderten ja selbstverständlich war, dass ein mächtiger Herrscher ein großes Reich erobert und dann die Menschen alle beherrscht, diese Idee, die Hitler ja auch hatte, diese Idee wurde durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Und weil das so ist, entstand ein neues Europa, nicht dadurch, dass einer alle anderen besiegte, sondern eine neue Einsicht da war, die dazu führte, Europa friedlich zu vereinen, auch wenn man sagen muss, dass das eine sehr schwierige, herausforderungsvolle Aufgabe ist, die noch anhält, die noch weiterer Gestaltung bedarf. Und die, wenn man einmal schaut, was in der Welt passiert, dass sich nämlich große Blöcke bilden, Russland, China, USA und wenn man sich in dieser Welt behaupten will, dann wird das sicher leichter sein als ein einigermaßen geeintes Europa, als nur ein so kleines Land wie Deutschland, das wirtschaftsmäßig noch so mächtig sein mag. Hier greifen also offensichtlich verschiedene Dinge ineinander. Es ist gut für uns, wenn wir lernen einig zu werden.
Diese Abstimmung ist ein riesiger Lernprozess, der nur durch Kompromisse und gegenseitiges Entgegenkommen und nicht durch moralische Verurteilungen, geschafft werden kann. Das heißt, für mich jedenfalls ist es keine Frage, dass eine intensive evolutive Entwicklung stattgefunden hat und stattfindet. Sie war nicht angenehm, aber sehr erfolgreich. Und nun möchte ich an einige Leute, die bei uns so sehr im geistigen Vordergrund stehen und gerne von einem rationalen Diskurs sprechen als das ideale Mittel des miteinander Umgehens fragen:
Was wäre denn, wenn jemand vor dem Ersten Weltkrieg einen rationalen Diskurs angestrebt hätte? Ein vernünftiges Sprechen darüber, dass Krieg doch furchtbar ist, man das besser sein lassen sollte? Ja, es gab solche Leute und die wurden als Vaterlandsverräter fertig gemacht, weil die allgemeine Stimmung anders war. Weil ein seelisches Wollen da war, eine tiefgehende Erfahrung und Veränderung durchzumachen, die nicht durch einfachen, rationalen Diskurs herbeigeführt hätte werden können.
Es ist nur so, dass die Angst bleibt. Und dass unsere neuen Werte von Menschenrechten und Friedensvorstellungen zwar einerseits wirklich ein großer Fortschritt in der Liebesfähigkeit sind, dass aber noch gelernt werden muss, dass allein freundlich sein und Frieden wollen ungeheuer gefährlich ist, wenn nicht alle mitmachen. Das heißt, was wir offensichtlich noch lernen müssen, ist, dass wir uns auch wehren müssen, dass wir auch eine funktionsfähige Armee, sogar mehrere Armeen in Europa brauchen, wenn wir nicht von Jung-Seelen Diktatoren wie Putin einfach überrannt werden wollen. Denn dieser Mann hat mit vielen anderen in Russland die Einstellung, dass wir mit unserer friedlichen Sehweise degeneriert sind, schwächlich und dass er deswegen ein großes Vergnügen daran hat und eine fantastische Leistung für sich darin sieht, uns zu erobern und uns seine Sehweise beizubringen. Und unter dem Aspekt der kollektiven seelischen Entwicklung hat er sogar „recht!!!“ Denn er ahnt noch nicht, was an weiterer Entwicklung noch vor ihm liegt und muss uns ja geradezu als unfähig aus seiner Entwicklungssicht her wahrnehmen.
Diese Tatsache zu begreifen ist eine neue geistige Herausforderung, ganz einfach weil verschiedene seelische Entwicklungsstufen nun einmal nebeneinander leben und daher entsprechende Spannungen und Herausforderungen einen wesentlichen Teil unserer Lebenserfahrung im Einzelnen wie im Kollektiven darstellen. Es gilt bei uns die historisch neue und gegenüber früher weiter entwickelte Vorstellung, dass alle Menschen gleich sind. Das ist wichtig, aber Eines wird dabei noch weithin übersehen, dass es sich auch hier um ein Dual handelt. Denn in Bezug worauf sind denn alle Menschen gleich? Wir sind alle gleich in Bezug auf unsere seelische Realität. Es gibt keine besseren oder schlechteren Seelen. Aber wir sind zum Teil extrem verschieden in Bezug auf unseren seelischen Entwicklungszustand. Da allgemein kein Verständnis für die Realität des Seelischen besteht, wird dieser elementare Unterschied nicht nur nicht wahrgenommen, sondern sogar als bösartig und undemokratisch missverstanden. Das ist doch eigentlich ganz selbstverständlich, denn auch wenn wir auf die Straße hinausgehen sehen wir lauter andere Menschen in verschiedenen körperlichen Entwicklungszuständen und wir stellen uns in unseren Kommunikation ganz selbstverständlich darauf ein und werden doch ein Kind nicht als existenziell minderwertig ansehen, bloß weil es kein Erwachsener ist. Menschenrechte und Friedfertigkeit sind sehr wertvolle Vorstellungen aber sollten in voller Bereitschaft, sich zu wehren gelebt werden, weil wir sonst in Gefahr sind, das Schicksal zu erleiden, das wir im Moment mit großem Entsetzen und Trauer in der Ukraine beobachten.
Gerade in einer bedrohlichen Situation ist es eine entscheidende Hilfe, eine innere Wahrnehmung von der Sinnhaftigkeit des Ganzen weiter aufrechtzuerhalten, die sich am täglichen Verhalten anderen gegenüber realisiert und einen inneren Lernprozess auch in gefährlichen Zeiten für sich sinnvoll in Anspruch nehmen und zustimmend zu begleiten. Das hat seine Grenzen. Jeder Mensch hat seine Grenzen. Aber machen wir uns doch als Alte Seelen klar, wieviel grauenvolle Kriege und sonstige entsetzliche Dinge wir schon hinter uns haben und dass wir aus diesem Grund eine gewisse in der Vergangenheit schwer errungene Fähigkeit von Liebe und Einsicht entwickeln konnten, weshalb Alte Seelen, auch wenn es noch wenige sind, gerade in einer solchen Zeit mit diesen Fähigkeiten besonders wertvoll für eine Gemeinschaft sind. Hierzu möchte ich im Folgenden noch Texte zur Verfügung stellen, die diesen Aspekt deutlicher werden lassen.